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Zentrale Aspekte der »Exercitia«

In den »Exercitia« wird eine Religiosität entwickelt, die sich wesentlich von der lange Zeit vorherrschenden kirchlichen Belehrung und Praxis unterscheidet. Führt man sie auf ihre grundlegenden Ansätze zurück, so scheinen mir vor allem drei Aspekte heute von unmittelbarer Aktualität:

  1. Gertrud zeigt ein Gottesbild, das völlig frei von Angst ist und den Menschen von Angst befreit und zum Leben beruft. Gott erscheint hier ausschließlich als der Liebende; als der Gerechte erscheint er nur insofern, ´als er dem Menschen »gerecht« wird. Er ist nicht der srenge Richter, der dem sündigen Menschen zürnt, sondern der barmherzige Vater, der dem Reuigen entgegenkommt.
  2. Wesentliches Element – und nicht nur formales Mittel – dieser Religiosität ist die Art, wie dieses Gottesbild erfahren wird. Kennzeichnend ist – in der Tradition der Bibel – ein Sprechen nicht in Begriffen, sondern in Bildern. Diese Bilder sind zwar durchaus intellektuell genauestens reflektiert (d. h. sie entsprechen genau der beabsichtigten theologischen Aussage), sie vermitteln die Aussage aber ganzheitlich, d. h. sie sprechen Geist und Sinne an.
    Diese Bilder sind „offen“, indem sie dem Leser/Hörer die Freiheit lassen, das Bild mit den eigenen Vorstellugen und Erfahrungen zu verbinden; sie sollen ihn nicht durch dogmatische Formeln „definitiv/eingrenzend“ „festlegen“. So sind die »Exercitia« dann ja auch kein theologisches Lehrbuch im herkömmlichen Sinn, sondern ein Meditationstext, der den Lesenden zur Freiheit der eigenen Gotteserfahrung anregen will.
  3. Sprachliche Grundstruktur ist das dialogische Sprechen. Daß Jesus das fleischgewordene Wort Gottes ist, wird hier ernst genommen: Gott ist ein Gott des Gesprächs. Wenn somit dann Lehre im Gespräch vermittelt wird, dann steht die Frauenmystik in einer langen Tradition, die schon bei den Griechen (Platon u. a.) beginnt, die hier aber spezifisch weiterentwickelt wird: es ist kein Lehrgespräch eines Lehrers zu einem zu Belehrenden, sondern ein Gespräch zweier Liebender, die – geradezu partnerschaftlich – ihre Gedanken und Empfindungen austauschen, mit „fleischlichen“, d. h. bildhaften Worten (im 13. Jahrhundert in der „Herzenssprache“ der Minne).

In all diesen Elementen zeigt sich mit größter Konsequenz eine Religiosität, die gänzlich „herrschaftsfrei“ ist, sowohl in der Haltun des Glaubens als auch des Lehrens. Glauben ist hier wesentlich nicht so sehr ein Fürwahrhalten von Lehren, sondern vielmehr eine Haltung des Glaubens und Vertrauens; Lehre ist hier nicht Belehrung, sondern ein Hinführen, geradezu ein Hinlocken zu den „Lehren, die bringen das Heil“, V 298.

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